Der Aasgeruch, der über den Müllbergen liegt, die sich wie apokalyptische Landstriche im Westen der Stadt ausbreiten, macht Manuel wenig zu schaffen, zu schlecht ist sein Geruchssinn mittlerweile geworden. Was der Alte nicht einmal als Einschränkung empfindet: Vergleichst du den kolossalen Gestank auf dieser Welt mit dem seltenen Wohlgeruch, der es wert wäre, wahrgenommen zu werden, kannst du auf eine feine Nase gut und gerne verzichten. Es gibt nicht genügend Aasgeier, die all das, was der Mensch an Dreck hinterlässt, zu entsorgen vermöchten ...
Textprobe aus DAS BÖSE WAR MEINE KUNDSCHAFT. Ein Chefinspektor wird einvernommen
FK = Franz Kabelka HP = Hans Poiger
FK: Was sich wahrscheinlich viele fragen: Wie hält ein Polizist es aus, ständig dem Tod ins Antlitz schauen zu müssen? All die zerstückelten Leichen, die geschändeten Kinder und Frauen – was macht das mit einem? Gibt es da psychologische Betreuung oder Supervision, und wenn ja, hast du selbst welche in Anspruch genommen? HP: Solche Fragen werden und wurden mir tatsächlich öfters gestellt. Aber ich muss sagen, ohne überheblich oder protzig wirken zu wollen: Ich habe aufgrund solch grausiger Vorfälle nie unter psychischen Problemen gelitten. Auch keiner meiner Kollegen, soweit ich das beurteilen kann. Heute wird dafür psychologische Betreuung angeboten, was ja okay ist. Die Frage nach dem Umgang mit schlimmen Bildern und Eindrücken ist aber erst in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren so richtig aufgekommen, zuvor war das gar kein Thema. Natürlich ist der Anblick von getöteten Menschen nichts Angenehmes. Ich hatte aber nie das Gefühl, deswegen etwa psychologische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. So tragisch und dramatisch ein Mordgeschehen ist: Das Opfer ist tot und der Tod gehört zu unserem Dasein, Punktum. Bei einer Tatortbesichtigung sind alle voll und ganz auf die Täterermittlung fokussiert: Wer ist das Opfer, was sagen die Spuren, was könnte das Motiv sein und dergleichen ... Da wird ganz pragmatisch gearbeitet. Vielleicht tritt im Laufe der Zeit auch ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. FK: Abstumpfung als Selbstschutz? HP: Bewusst jedenfalls nicht. Ich habe und hatte auch keine Albträume deswegen. Ich könnte aber nie das tun, was zum Beispiel Rettungs- und Feuerwehrkräfte leisten: Verunfallte, schwer verletzte und unter Schmerzen leidende Personen bergen. Dass da verschiedene Helfer Supervision und psychologische Betreuung in Anspruch nehmen, kann ich gut verstehen. Letztlich soll jeder und jede den Beruf wählen, den er/sie auch ausüben kann. Ganz anders sieht die Sache bei Angehörigen von Mordopfern aus: Speziell für Kinder und für lieb gewonnene, nahestehende Personen ist ein Mordfall immer eine ganz schwere Belastung, das ist unbestritten und wird auch von der Polizei nicht ausgeblendet. Dafür gibt es mittlerweile auch die Einrichtung des Kriseninterventionsteams in allen Bundesländern. FK: Und der ständige Umgang mit Mördern und Verbrechern – hast du das immer so einfach wegstecken können? Ich möchte dir dazu gerne eine passende Stelle aus dem Kriminalroman Der Schwanz der Schlange des kubanischen Autors Leonardo Padura vorlesen: „Er hatte auch gelernt, dass der Polizeiberuf eine schmutzige Arbeit mit Nebenwirkungen ist: Jeden Tag mit Mördern und Dieben, Betrügern und Vergewaltigern umzugehen, führt am Ende dazu, dass man ein düsteres Bild vom Leben bekommt und die Hände einen Geruch nach Scheiße annehmen, der auch mit den schärfsten Scheuermitteln nicht verschwindet.“ Das sagt El Conde, der Ermittler in diesem Krimi, über sich selbst. Empfindest du ähnlich? HP: Der Umgang mit Mördern ist für mich zuerst einmal höchst interessant und aufschlussreich. Diese Menschen sind keine Vampire und Schlächter. Die meisten sind eigentlich bedauernswerte Individuen, wenn auch manche recht unberechenbar und mit Vorsicht zu genießen sind. Oft ergibt es sich, dass im Verlauf der Einvernahme solcherlei Befürchtungen in den Hintergrund treten, weil sich zwischen dem vernehmenden Beamten und dem Verdächtigen ein eigentlich vernünftiges Gespräch entwickelt. Wahrhaft erschreckend ist für mich eher, wie viele Rechtsbrecher nicht konfliktlösungsfähig sind und kein Unrechtsbewusstsein haben. Wie schon aus geringstem Anlass oder wegen eines kleinen materiellen Vorteils schwere Delikte bis hin zum Mord verübt werden. Ganz besonders spielt da der Narzissmus eine Rolle, worüber ja Prof. Reinhard Haller, der bekannte Psychotherapeut und psychiatrische Gerichtsgutachter, ein Buch geschrieben hat. FK: Du hast also nie Bedarf an professionellen psychologischen Betreuern gehabt. Aber vielleicht gab es doch Hilfe und Unterstützung im privaten Bereich? HP: Meine persönliche Psychohygiene habe ich im Verständnis meiner Frau gefunden, die als Sozialarbeiterin ebenfalls die negativen Erscheinungen unserer Gesellschaft kennt. Nicht zuletzt waren es Gespräche mit Erfahrungs- und Meinungsaustausch im Kreise von Berufskollegen, gelegentlich auch in geselliger Runde.
Textprobe aus KALTVIERTEL
Es ist ein kühler, wolkenverhangener Montagmorgen, aber auf der Polizeiinspektion in Ottenschlag herrscht bereits höchste Betriebsamkeit.
Die Hoffnung, dieser Tag würde sich wieder zu einem gemütlichen, stinknormalen Werktag entwickeln, hat Bezirksinspektor Nagl bereits begraben. Seit geschlagenen dreißig Minuten ist der schnauzbärtige Exekutivbeamte nämlich damit beschäftigt, die Zeugenaussage eines gewissen Horst Krückl, wohnhaft in Weinzierl am Walde und von Beruf Installateur, aufzunehmen und in eine nachvollziehbare schriftliche Form zu bringen. Was gar nicht so leicht ist, denn um die psychische Verfassung des Zeugen ist es schlecht bestellt.
Wie der Mann unter unkontrolliertem Schluchzen zu Protokoll gibt, hatte er seine übliche morgendliche Laufstrecke entlang der Kleinen Krems unterhalb der Burg Hartenstein etwa zur Hälfte absolviert, als er eine eigentümliche Beobachtung machte. Genau beim Wegweiser zur Gudenushöhle sei ein brauner, teuer wirkender Lederschuh gelegen. Als Krückl sich irritiert umsah, stellte er fest, dass der kurze, aber steile Pfad hinauf zur Höhle dunkle Streifen im Erdreich aufwies, bei denen es sich seinem Dafürhalten nach um Schleifspuren handelte. Er folgte den Spuren, die unmittelbar beim östlichen Eingang der Höhle endeten. Wenige Meter dahinter entdeckte er einen nackten männlichen Körper, nur die Füße steckten noch in Socken. Um ihn herum lagen verstreut Krawatte, Hemd, Rock, Hose und Unterhose, offensichtlich die Kleidung des Toten. Der Zeuge habe sich einfach nicht überwinden können, ihn zu berühren, um seinen ersten Eindruck durch einen Griff ans Handgelenk oder an die Halsschlagader zu überprüfen. Aber dass es sich um eine Leiche handelte, war für ihn ohnehin traurige Gewissheit. Nicht nur wegen des deutlich wahrnehmbaren und höchst unangenehmen Verwesungsgeruchs, sondern auch weil der Körper bäuchlings und mit unnatürlich abgewinkelten Gliedmaßen auf dem Höhlenboden lag. So würde kein Lebender daliegen, nie und nimmer. Und, ja, Blut habe er schon wahrgenommen, schwarz und gestockt; das angegraute Kopfhaar des Toten sei damit verklebt gewesen. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, da er, wie schon gesagt, die Leiche nicht berührt, geschweige denn umgedreht habe.
All das hat BI Nagl nicht in dieser bündigen, protokolltauglichen Form erfahren, sondern er musste die Informationen dem Mann zizerlweise aus der verrotzten Nase ziehen. Eine mühsame Angelegenheit.
„Und Sie sind unmittelbar nach Auffinden der Leiche hierher gefahren?“
„Ja, sofort. Ich musste natürlich erst zurück zum Auto laufen, aber das hat keine zehn Minuten gedauert. Dann bin ich stracks hierher gefahren.“
Nagl runzelt die Stirn.
„Und wieso nicht zur Polizeiinspektion in Weißenkirchen? Die liegt doch wesentlich näher bei der Burg Hartenstein.“ „Keine Ahnung, ich habe mir das nicht überlegt. Hätt ich erst ausrechnen sollen, welcher Posten der nächste ist? Ich bin einfach hierher gefahren, weil ich die Ottenschlager Adresse kenne: Unterer Markt 10. Hab schließlich hier schon öfters Strafe gezahlt wegen Falschparkens.“
Okay, das ist natürlich ein Argument, das muss der Bezirksinspektor anerkennen. Leise flucht er in sich hinein. Wie gerne hätte er diese Meldung und ihre unerquicklichen Konsequenzen den Kollegen in der Wachau überlassen. Wenn in seinem Zuständigkeitsbereich irgendwo eine Leiche auftaucht – was glücklicherweise überaus selten vorkommt –, gilt es sich zuerst diese eine Frage zu stellen: Stinkt’s oder stinkt’s nicht? Also, nicht die Leiche – der Sachverhalt! In ersterem Fall wäre dann weiter zu unterscheiden zwischen „stinkt’s ein bisserl“ oder „stinkt’s gewaltig“. Diese Differenzierung hat nämlich wesentliche Auswirkungen auf die weitere Vorgangsweise eines Exekutivbeamten. Im Fall eines geringen Verdachts würde einfach eine kriminalpolizeiliche Leichenbeschau zusammen mit dem nächstbesten Gemeindearzt vorgenommen werden; mittlerweile gibt es ja an jeder Bezirksstelle Polizisten, die sich im Rahmen des KKD, des Koordinierten Kriminaldienstes, schon eine entsprechende Erfahrung angeeignet haben. Im Fall eines wirklich bedenklichen Todesfalls heißt es hingegen auf der Stelle das LKA in St. Pölten anrufen, um sich keine späteren Vorwürfe einzuhandeln. Aber umgekehrt regen sich die lieben Kollegen im Landeskriminalamt auch furchtbar gerne auf, wenn man sie zu schnell ruft. Insbesondere dann, wenn sich später herausstellen sollte, dass zum Beispiel der alte Huberbauer keinesfalls einem Gewaltverbrechen, sondern nur der eigenen Fresssucht zum Opfer gefallen ist – will heißen mit seinem Hals deshalb in die Kreissäge geriet, weil er halt unbedingt während der Arbeit ein Speckbrot verzehren musste. Und dem einfachen Bezirksinspektor wird dann ein Verweis erteilt, alles schon da gewesen! Wer, wie Nagl, so eine Situation einmal erlebt hat, tut sich das nächste Mal mit der Beurteilung gar nicht mehr so leicht. Da wird aus einer einfachen Fragestellung ein richtiges Dilemma.
Aber wie es aussieht, fällt in diesem Fall die Entscheidung leicht.
Wenn in einer abgelegenen Höhle die Leiche eines Menschen gefunden wird, der sich ganz offensichtlich nicht suizidiert hat und – angesichts seiner Nacktheit – auch kaum einem plötzlichen Herzinfarkt zum Opfer gefallen ist, vielmehr unter Einbüßung eines Schuhs in besagte Höhle geschleppt wurde, fällt das wohl eindeutig unter die Kategorie „stinkt gewaltig“.
Ohne länger nachdenken zu müssen, greift Nagl zum Telefon.
„Das LKA, bitte!“
Textprobe aus GESUNDES GIFT
Die Sonne ging langsam unter und übergoss die Skyline von Boston mit einer graurosa Glasur. Ich sollte öfter hier herauf kommen, dachte Piper. Wieso braucht es erst die Anregung von außen, um sich den schönsten Blick über Boston zu gönnen? Plötzlich fiel ihm ein, was er schon beim Telefonat mit Nair vergessen hatte zu fragen. Oder hatte er die Frage ohnehin gestellt und war sie nur nicht beantwortet worden?
„Wie heißt eigentlich Ihr Auftraggeber?“
Der Inder hielt seinen Blick auf den Boden geheftet. Ruhig setzte er Fuß vor Fuß, wie einer, der von Kindheit an das gleichmäßige, ausdauernde Gehen gewöhnt war. Auch seine Antwort klang ruhig und bedächtig.
„Verzeihen Sie, Sir, aber ich denke, dass es für Namen noch zu früh ist. Das mag Sie vielleicht befremden, aber bei uns geht es im Geschäftsleben etwas anders zu als bei Ihnen. Vor allem dann, wenn es sich um solch … sensitive Bereiche handelt wie in diesem Fall. Es gibt ein keralisches Sprichwort, das lautet: Ramme zuerst die Pfosten in den Boden, wenn du einen Zaun bauen willst. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Zaun aus Palmblättern oder aus einer hohen Mauer gespickt mit Glassplittern besteht. Hauptsache, der eigene Grund und Boden ist gesichert. Sie verstehen, Sir? Ohne solche Maßnahmen ist das schönste Haus, der größte Palast nämlich in Kürze nichts mehr wert, denn Diebe und Räuber werden sich seiner bemächtigen – ein ehernes Gesetz.“
In gewisser Weise bewunderte Piper die ausschweifende Sprache des Orients, wenn sie ihm als Wissenschaftler auch vollkommen wesensfremd war. Ein einfaches Ja oder Nein bzw. die konkrete Nennung oder Verweigerung eines Namens konnten diese Menschen in eine voluminöse Bildersammlung wie in jene der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verpacken. Wenn sich Piper recht an seine Literaturklasse an der Highschool erinnerte, stammten die berühmten Erzählungen ursprünglich aus dem Indischen, ehe sie von Persern und Arabern weiterentwickelt wurden. Sinnlich, opulent, gewiss – aber im Kern war Tausendundeine Nacht nichts anderes als eine Mordsgeschichte, in der Frauen nach ihrer Liebesnacht mit dem Herrscher umgebracht werden. Bis auf jene, die durch die Kunst des spannungsreichen Erzählens das fatale Muster zu durchbrechen vermag.
„Wenn Sie mir nicht einmal den Namen Ihres Auftraggebers nennen wollen oder können, hat sich ein weiteres Gespräch wohl erledigt.“
Piper blieb stehen, doch der andere hielt seine Schritte nicht an, änderte nur die Richtung: Er begann Piper zu umkreisen.
„Halten wir uns doch nicht mit Formalitäten auf, Sir“, sagte der Mann mit leiser, beschwörender Stimme, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. Oder den man im Fall des Falles um Hilfe bitten konnte. Die Art, wie der andere sich um ihn herum bewegte, bereitete Piper zunehmend ein ungutes Gefühl. Wie ein verdammtes Raubtier, dachte Piper. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?
„Welche Rolle spielt ein Name, der Ihnen letzten Endes doch nichts sagen würde? Wollen wir nicht lieber über das Wesentliche reden? Darüber, was bei unserer Kooperation für Sie herausspringen könnte?“ Der Inder wackelte während seiner Fragen mehrfach mit dem Kopf. Piper wusste damit nichts anzufangen.
„Ich verhandle nicht mit Unbekannten beziehungsweise mit dem Agenten eines Unbekannten“, sagte er harsch und erschrak gleichzeitig über die ungewohnte Schärfe in der eigenen Stimme. „Ich denke, wir beenden besser unsere Unterhaltung, Mr. Nair.“
Jetzt blieb auch der andere stehen. Einige Augenblicke lang blickten sie einander schweigend an. Dann lächelte der Inder wieder sein eigentümliches Lächeln. Wie ein Junge, der erstmals ein Mädchen anspricht.
„Wie haben Sie den Gott der kleinen Dinge gefunden, Sir?“, fragte er unvermittelt. „Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Geschichte etwas zugesetzt hat, ihren Randnotizen nach zu urteilen. Nun ja, sie ist ja auch keine leichte Kost, vor allem, wenn man nicht in Indien aufgewachsen ist.“
Piper erstarrte. Nicht einmal Mary Rose hatte diese Notizen je zu Gesicht bekommen. Seine Bücher waren für alle in der Familie tabu, erst recht für Menschen außerhalb. Weshalb er niemals welche verliehen oder eingetauscht hatte. Zu Büchern hatte er ein ausgesprochen intimes Verhältnis. In jedem einzelnen Exemplar seiner Privatbibliothek fand sich sein Exlibris, er hatte sich den Stempel bereits als Student anfertigen lassen. Und er duldete keine Zweitleser, natürlich nicht. Man überließ ja auch seine Gattin keinem anderen!
Woher also konnte Nair wissen, was er in eines seiner Bücher hineingekritzelt hatte? Piper spürte, wie ihm ein kaltes Rieseln ausgehend von den Nackenwirbeln über den Rücken lief. Und so viel war sicher: Es hatte nichts mit der langsam hereinbrechenden Nacht zu tun.
Eher hing es mit dem zusammen, was ihm vorgestern früh aufgefallen war, als er das Wohnzimmer betreten hatte, was er aber, nachdem auch Mary Rose keine Erklärung dafür gehabt hatte, als Produkt einer vorübergehenden Geistesabwesenheit abtat: Ein Stapel seiner Bücher hatte sich nicht auf dem angestammten Platz befunden.
Textprobe aus DIE MUSCHEL. Geschichten von Reisen und Zeitreisen
Kreisrund glänzte die Glatze des Manns, wie mit dem Zirkel vermessen und frisch poliert. Der Hintern der Frau doppelt so breit wie ihre Schultern, das Kleid sommerlich dünn, mit großen Sonnenblumen übersät. Der Bub trug die blaue NY-Baseballkappe ein wenig schräg, ein Zeichen vermutlich. Keine Touristen, soviel war klar. Wobei ich nicht erklären hätte können, was mich zu dieser Überzeugung brachte.
Das Trio steuerte geradewegs auf mich zu. Ich saß im Schatten auf der kleinen Terrasse vor meinem Lieblingslokal, dem Na Louži, und hatte mich beim Kellner soeben mit einem freundlichen Blick für den dampfenden Teller Rindfleisch à la Smetana bedankt. Der Kellner hatte wie immer mit einem kaum merklichen, ernsten Kopfnicken geantwortet, die Zitronensauce mit Preiselbeeren und Schlagobershäubchen duftete, als hätte die Oma selbst sie droben in der Himmelsküche für ihr Enkerl zubereitet. Ich nippte an dem einfachen, aber tadellosen mährischen Riesling, als sie mich auf Tschechisch ansprachen. Ob noch Platz sei an meinem Tisch, sollte das wohl heißen. Klar, deutete meine Hand, děkuji, sagte der Mann. Aber sie setzten sich gar nicht zu mir, drückten nur ihren Sprössling mir gegenüber auf die Bank. Der Bub wehrte sich, mit greinendem Gesicht, es half nichts, er musste heraußen bleiben. Der Vater verschwand forschen Schrittes ins Innere der Gaststube, während die Mutter, offenbar geplagt von schlechtem Gewissen, ein rotes Handy aus ihrer Handtasche zog und es kommentarlos auf den Tisch legte, ehe sie ihrem Mann ins Lokal folgte, wobei sie ihren massigen Körper seitwärts durch die schmale Pforte drücken musste.
Mein Gegenüber, geschätzte vierzehn, fünfzehn Jahre alt, hockte da wie ein begossener Pudel. Ein Pudel mit schiefer Baseballkappe. Eine Minute lang starrte er auf die Tischplatte, mit sich ringend, ob er den elektronischen Trost annehmen sollte oder nicht; dann begann er auf dem Handy der Mutter herumzufuhrwerken. Er war sehr konzentriert und gewandt bei dem, was er tat, vielleicht stellte er gerade irgendeinen Rekord in Tetris auf, oder was man sonst so spielt in seinem Alter. Da zwängte sich seine Mutter nochmals durch die Tür ins Freie, mit einem Kracherl in der einen und einem bauchigen Weinglas in der anderen Hand. Sie schenkte ein, kostete von der weißlichen Limonade und verzog genießerisch den Mund, ehe sie das Glas wieder wortlos hinstellte und im Dunkel des Lokals verschwand.
Der Bub hatte von ihr keinerlei Notiz genommen. Auch nachdem sie weg war, rührte er das Glas nicht an, tippte nur wie verrückt auf dem Nokia herum. Einige Minuten später kam der Vater heraus und stellte ihm ein paar Fragen, erntete aber nichts als trotziges Kopfschütteln. Verärgert zuckte der Glatzköpfige mit der Achsel und ließ mich erneut mit seinem Sohnemann allein.
Der war weiter wortlos am Tippen, in stark gebückter Haltung. Wirst dir bald einen Buckel holen, dachte ich. Ob ich ihn ansprechen sollte? Englisch müsste er ja in der Schule gelernt haben, oder vielleicht konnte er sogar Deutsch, in dieser grenznahen Gegend verstanden die meisten ein paar Brocken. Während ich noch überlegte, hielt der Bub Mamas Handy über das volle Glas, ein kurzer Schwebezustand, dann ließ er das rote Ding langsam in die Flüssigkeit gleiten. Es spritzte nicht einmal. Tonlos fing er an zu weinen, sein Gesicht eine einzige Fratze.
„Sprichst du deutsch?“, fragte ich ihn.
Er blickte mich entsetzt an.
„Oder englisch?“
Er nickte schüchtern.
„Dann genieß es doch!“, sagte ich zu ihm auf Englisch, „genieße die paar Minuten ohne deine Alten – enjoy!“
Er sah mich einige Sekunden lang verwirrt an, schließlich die Erkenntnis. Seine Mundwinkel gingen nach oben, und mir wurde das wunderbarste Lächeln zuteil, das mir jemals ein Halbwüchsiger schenkte. Kräftig stießen wir an. Ich mit meinem Glas Riesling, er mit seiner tschechischen Limonade, auf deren Grund rot ein finnisches Handy ruhte.
Textprobe aus JEMAND ANDERS
Prolog
Er schaut hinauf zur knallgelben Plastikuhr, mit ihren stilisierten Frauenkörpern als Zeigern: fünf vor neun. Eigentlich sollte er schon längst in der Garderobe sein. Aber es macht ihm nichts aus, der Letzte im Studio zu sein, absolut nichts. Das Privileg nimmt er sich einfach heraus, und nicht zum ersten Mal. Selber schuld, Mädel, grinst er in sich hinein. Hättest was Ordentliches gelernt, dann könntest du dich jetzt mit deinem Lover vergnügen und müsstest nicht für mich da sein. Von wegen Kunde ist gleich König und so.
Die Kleine steht alleine an der Theke, von ihm abgewendet und offenkundig damit beschäftigt, einen Shake zu mixen. Bereits seinen zweiten an diesem Abend, den für danach. Er hat ihn bestellt, indem er seine Zeige- und Mittelfinger zum V-Zeichen spreizte. Das Victorysymbol. Es könnte auch für den Sieg über seinen inneren Schweinehund stehen.
Er freut sich schon auf die gelbliche Eiweißbombe. Aber vorher will er es sich noch einmal beweisen. Es sich … Er braucht keine Zuseher dabei. Was hat er gemein mit diesen solariumgerösteten, öltriefenden Muskelprotzen, die selbstverliebt ihre Sixpacks in der Spiegelwand begaffen oder, lässig an ein Kraftgerät gelehnt, mit ihresgleichen Informationen über die neuesten anabolen Steroide am Markt austauschen. Die Tag für Tag in diesem Maschinenpark herumhängen, als ob es sonst nichts zu tun gäbe. Kretins, denkt er, hirnamputierte, bizepsstrotzende Kretins! Und jeder Dritte tätowiert, vom Arsch aufwärts. Mit kitschigen Blumengirlanden, chinesischen Schriftzeichen. Als wären sie allesamt Mitglieder einer asiatischen Gang. Eitelkeit, der Sinn ihres Lebens hier im Vanity fair des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Nicht so bei ihm. Er kann auf Sixpack und pralle Oberschenkel tadellos verzichten. Auch dass sein Bauchumfang trotz des eigens für ihn zusammengestellten Trainingsprogramms bisher nicht geringer geworden ist, kratzt ihn nicht: Meine Wampe gehört zu mir wie die fette Zigarre nach einem Viergangmenü; das Motto, das er jedem Stänkerer mit Wonne entgegenschleudert, am liebsten den passionierten Nichtrauchern. Und abgesehen davon: Selbst ein zwanzig Kilo geringerer Ranzen vermöchte ihn kaum mehr in einen Adonis zu verwandeln. Ob seine Alte es überhaupt bemerken würde? Adele, das frustrierte Adelchen, die Quartalquengelsuse mit ihren ewig klagenden, anklagenden Augen. Vor zehn Jahren hätte eine andere Figur vielleicht noch eine Rolle gespielt, aber jetzt …
Was sie bemerkt, ist ihm mittlerweile so was von egal. Scheißegal!
Alsdann, murmelt er und bewegt sich langsam auf Nummer 12a zu. Es gibt daneben ein identisches Gerät, 12b, aber aus irgendeinem Grund hat er sich schon am ersten Tag für 12a entschieden, und seither wartet er, selbst wenn das Studio randvoll ist mit Leuten, lieber ab, bis seine Bank frei ist, als die andere zu benutzen. Seit drei Monaten trainiert er bereits darauf, hat allein auf 12a schon etliche Tonnen hochgestemmt, Bankdrücken ist eindeutig sein Ding im Kraftbereich. Vielleicht, weil da die Fortschritte am augenfälligsten sind. Wenn er zurückdenkt an die mageren vierzig Kilo, mit denen er begonnen hat! Jetzt hält er bei mehr als dem Doppelten. Und heute, heute Abend will er das erste Mal dreistellig werden.
Nur so für sich. Ganz ohne Zeugen.
Er legt die Scheiben auf und streift das rote Badetuch mit seinen gestickten Insignien über die Bank. Dann lässt er sich vorsichtig darauf nieder. Der silberne, blitzende Stahl der Olympiahantel reflektiert einen der vielen Spots, was etwas blendet, aber ihn zugleich erfreut. Wahrlich, an der Hygiene und Sauberkeit in diesem Studio gibt es nichts zu bekritteln.
Die Musik aus dem Kopfhörer hüllt ihn ein. Bachs Suite Nr. 3 in D-Dur, BWV 1068 – Air. Seine Air! Es gibt nichts Friedlicheres als diesen grünen, breiten Strom, dieses wohlige Wallen. Bach eben. Im Grunde die einzige Musik, die er noch gelten lässt. Früher, in seiner Aktivzeit, hat er sich auch mit anderen großen Meistern herumgeschlagen: Schostakowitsch, Strawinsky, Martinů. Meinte, die slawische Seele für sich entdeckt zu haben, und fand sie inspirierender als jeden Mozart, jeden Schubert. Aber als er mit dreißig Bachs Air erstmals im Radio hörte (nein, nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal richtig!), als dieses unglaubliche Wallen in D-Dur Besitz von ihm ergriff, wusste er, dass die Suche nun ein Ende hatte, dass er keine andere Platte mehr in seinem Leben kaufen würde als neue Einspielungen dieses einen, zwischen fünf Minuten fünfzehn und fünf Minuten fünfundzwanzig Sekunden langen Stücks, je nachdem, ob ein Karajan es dirigierte oder ein Daniel Barenboim.
Ganz leise hat er die Lautstärke an seinem mp3-Player eingestellt, doch dank der perfekten Passform der tief in den Gehörgang gedrückten Knöpfe dringt kein Ton von außen zu ihm durch. Die Konservenmusik im Studio überlässt er gerne den geölten Sardinen. Er blickt hinüber zur Bar. Die Kleine hat sich ihm jetzt halb zugewandt und grinst, als sie seinen Blick bemerkt. Arm, denkt er, erbärmlich. Musst dir ein Lächeln abringen, obwohl du mich vermutlich ebenso wenig leiden kannst wie ich dich. Arme kleine Nutte! Erinnerst mich an irgendwen, aber eh kein Wunder: Eine Visage hier sieht aus wie die andere; allesamt überschminkte Larven, die einen dümmlich anglotzen. Am Ende seid ihr doch nichts als Nutten, die darauf warten, dass einer sie abholt, rausholt aus ihrer Auslage. Dafür wird in trendige Klamotten und teures Make-up investiert, um den Kunden mit einem sexy Wimpernklimpern die Energydrinks servieren zu können. Na ja, letztlich ist ein jeder seines Glückes Schmied.
Er grinst und führt seine Hände an die kalte Stange. Die ideale Position innerhalb des geraffelten Bereichs zu finden ist zentral. Er hat sich angewöhnt, die Langhantel ein wenig weiter außen zu umfassen, als Furat ihm gezeigt hat. So passt es besser für ihn, wegen seiner langen Arme. Einhundert Kilo, denkt er, okay, euer Tag ist gekommen!
Es hat gedauert, bis er Adeles Drängen nachgab und sich im Studio einschreiben ließ. Einer Laune folgend, beileibe nicht ihretwegen. Sie hatte ohnehin gleich wieder aufgehört, kaum dass er anfing. Weil sie den Karren als hoffnungslos verfahren betrachtete, mit Mann und Maus abgesoffen im Morast ihrer Ehe? Wie auch immer, das gemeinsame Herumhüpfen würde ihre Beziehung auch nicht mehr retten. Dachte er, dass sie dachte. Ihm war es nur recht gewesen. Schlimm genug, wenn einem Wildfremde beim Schnaufen und Schwitzen zusehen – was, bitte, soll es bringen, wenn die eigene Frau diesem Ausscheidungsvorgang beiwohnt? Sie, die dir im Bett schon längst nicht mehr beiwohnt. Die durch ihr Wegdrehen allabendlich zu erkennen gibt, wie unappetitlich sie alles an dir findet, wie ekelhaft …
Er schiebt die Gedanken beiseite und stößt ein Grunzen aus. Das ungewohnte Gewicht verlangt ihm alles ab. Sauber hochführen, erinnert er sich, und ausatmen, und pressen. Die Lichtreflexion auf der Stange ist noch stärker geworden, er spürt, wie seine Oberarme zu zittern beginnen. Er lässt die Langhantel wieder in die Halterung zurücksinken. Lauter als zuvor rauscht die klassische Musik durch seine Gehörgänge. Seine Schläfen pochen. Die Kleine drüben hält lächelnd den Eiweißshake in die Höhe, als wolle sie ihm zuprosten damit, dann verschwindet sie aus seinem Blickfeld. Meine Belohnung, denkt er, heute werde ich sie mir verdienen. Habe mir immer alles verdient in meinem Leben, nichts wird einem geschenkt, ohne Fleiß kein Preis. Eine kleine Pause, dann krallen sich seine Finger erneut um die Stange. Von unten sieht es aus, als würde sie sich krümmen, wie ein mächtiger Bogen, der gespannt wird. Welch ein Unsinn, rügt er sich, es gibt Typen hier, die drücken das doppelte Gewicht, und nie hat sich die stählerne Stange gekrümmt. Seine Unterlippe schmerzt, so fest beißen seine Schneidezähne darauf. Nicht verkrampfen, Verkrampfen bringt gar nichts, das hat man ihnen immer wieder eingeschärft! Und zwei Kilo mehr können doch nicht so einen Unterschied ausmachen. Zwei lächerliche Kilo mehr. Im Augenwinkel nimmt er einen Schatten wahr, der sich über ihn beugt.
Mit einem Schlag ist die Musik wie weggeblasen. Ein unbändiges Brennen, dann wird alles weich und leicht, beinahe schwerelos.
Siehst du, es geht doch, frohlockt eine Stimme in ihm. Du hast gewusst, dass du es schaffst!
Von tief drinnen hört er ein garstiges Geräusch. Ein Knacken, das anschwillt zu einem unbändigen Lärm.
Passt überhaupt nicht zu Air, kann er noch denken, ehe er das Bewusstsein verliert.
Textprobe aus DÜNNE HAUT
1. Kapitel: Reden wir halt
Sein Versuch, den flaumigen Wall aus Kissen und Federbett zu überwinden, um den Schalter der Nachtkästchenlampe ertasten zu können, scheitert schon im Ansatz. Was ist es, das ihn ins Weiche zurückdrückt, getränkt mit einem angenehmen Geruch, Moschus vermutlich, der wohlig aus dem Träumeland herüberwabert, aus tiefster Bettwärme? Etwas in seinem Schädel ist noch krampfhaft darum bemüht, die idyllische kleine Insel festzuhalten, auf der der Kaiman sich in der Sonne aalt, ein Eiland voll exotischer Pflanzen und Tiere, mit fallenden Kokosnüssen als einziger Gefahrenquelle für das gewaltige Reptil. Bis der Mensch kommt. Der Jäger, der sich von hinten anpirscht, immer von hinten, um das Tier am Schwanz zu packen und nicht mehr loszulassen, bis es sich im Zoo wiederfindet, lebendig und tot zugleich. Kaiman oder Jäger? Aber spiegelt nicht ohnehin eine jede Traumgestalt nur dich und deinen Seelenzustand wider? Wer hat das gesagt? Egal – aufwachen, Hagen, heraus aus deiner Taucherglocke! Er wartet auf dich, der seichte Steppensee der Realität, durch den es wie ein Reiher zu staksen gilt auf der Suche nach den Würmern, die das Überleben garantieren … Etwas nestelt an ihm herum. Dieses unangenehme Gefühl hatte er zuletzt vor zwei Jahren, als er nach seiner Schulteroperation aus der Narkose erwachte. Es irritiert ihn, dass sich seine rechte Hand nicht bewegen lässt. Dass sie nicht wie gewöhnlich unter dem Polster ruht, um im Schlaf Kinn und Wange zu stützen, sondern hochgezurrt ist in eine unnatürliche Stellung. Ersatzweise versucht er, seine Linke einzusetzen. Die Reaktion ist ein harter Griff und eine Schlinge ums Handgelenk. Eine leicht duftende Schlinge. Dünn und doch reißfest, wie ein Damenstrumpf. Auf ihm die Silhouette einer weiblichen Gestalt. Ihr Gewicht drückt ihm den Brustkorb zusammen. Jetzt ist auch sein zweiter Arm am Bettgestell fixiert. Und als die Augen sich langsam an die Schattenwelt zu gewöhnen beginnen, geht mit einem Schlag das Licht an. Ein Licht, das jeden Zweifel über seinen Zustand beseitigt. Ob er schon wach ist oder noch träumt. Sie hockt auf ihm wie ein Ringer auf dem Besiegten, mit einem orangen Ding in ihrer Hand. Schwer zu sagen, wie sie an sein Stanley rangekommen ist. Vielleicht hat sie es bei ihrem Besuch in der offenen Schublade gesehen und einfach mitgehen lassen. Den Cutter mit der versenkbaren Klinge, den er immer dabeihat, wenn er verreist. Ein Leatherman wäre zweifellos standesgemäßer. Die Situation hat etwas furchtbar Triviales an sich. Die kurze Klinge blitzt und funkelt nicht gefährlich im Mondlicht, wie die klassische Waffe in einem Thriller es zu tun pflegt, sobald es ums Eingemachte geht. Die mausgrauen Jalousien geben dem Mond ja gar keine Chance, die Szene dramatisch zu beleuchten, und ein gerade mal fünfzehn Zentimeter langer Kartonschneider ist auch nicht gerade die klassische Waffe. Kurios, denkt Hagen, wie einfachste Dinge es manchmal schaffen, dem Leben wenn schon keinen Sinn, so doch eine gewisse Struktur zu geben, Anknüpfungspunkte: In seinem letzten großen Fall hat ein Kartonklebeband eine wichtige Rolle gespielt, um Mund und Hals eines alten Obdachlosen gewickelt. Selbstmord oder Mord, so lautete damals die Frage. Im Prinzip riecht es hier, mit seinem Stanley in ihrer Rechten, nach derselben traurigen Alternative. Mit dem feinen Unterschied, dass die Variante Mord diesmal ihn, den Chefinspektor a. D., höchstpersönlich betreffen würde. Außer Dienst. Es ist ihm nicht leicht gefallen in den vergangenen Wochen, dieses a. D. hinter seinem Amtstitel zu akzeptieren. Dass man es angesichts seiner jetzigen Zwangslage auch als Ade, als endgültige Verabschiedung lesen könnte, daran hat er bisher nicht gedacht. Sie ist von seinem gefesselten Körper heruntergerutscht und steht vor ihm, wie er es von ihr kennt: sexy, lässig. Nur ihr Blick passt nicht dazu. Der passt besser zum Schneidewerkzeug in ihrer Hand. „So,“ sagt sie und betrachtet ihr Werk. Ihre Stimme könnte nüchterner nicht klingen. Wie in einer James-Bond-Szene, wo der Agent X den Agenten Y geschäftsmännisch neutral auffordert, der eigenen Liquidation mannhaft ins Auge zu sehen. Was Y üblicherweise auch tut. Spione haben das offenbar verinnerlicht, zumindest im Film. Wenn das Spiel aus ist, gibt es nichts zu jammern, wird nicht um Gnade gewinselt. Gegebenenfalls vollführt man noch eine Pirouette, trifft mit dem gestreckten Bein punktgenau den Revolver, die Waffe wechselt im Flug den Besitzer, und nun ist X der Gelackmeierte, schaut seinerseits in die kleine runde Öffnung. Keine Zeit für Schockzustände. Wenn die Kugel einem das Hirn beim Hinterkopf hinaustreibt, ist wenig Gefühl im Spiel. Auch nicht beim Kinopublikum. Das Gesetz der Spionage ist ein Naturgesetz, und jeder Beteiligte kennt und akzeptiert es: Wer schneller abdrückt, hat recht. Überleben als einziges Kriterium. Aber das fällt dem Guten im Film natürlich wesentlich leichter als in der profanen Wirklichkeit. Zumal der Agent im Film nicht ans Bett gefesselt ist, wortwörtlich. „Setz dich auf“, sagt sie. „Witzig“, sagt er, „wie denn?“ Die Strümpfe schnüren ihm das Blut ab. Er merkt, dass es um seinen Kreislauf nicht zum Besten bestellt ist. Ein leichter Schwindel hat ihn erfasst, und er kämpft dagegen an. Nein, das wäre nicht angebracht, so knapp vor dem Abgang noch zu kollabieren. Die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht vermag ihn nicht zu beruhigen. Es drückt ziemlich unmissverständlich aus, dass er sich wegen seines zu niedrigen Blutdrucks keine Sorgen mehr machen muss, wie auch wegen sonst nichts mehr. Sie haben viel geredet miteinander in den letzten Tagen. Da lernt man, die Kommentare im Gesicht des anderen zu lesen. „Na schön. Dann tu halt, was du tun musst.“ Wieder dieses Lächeln. „Nein, mein Freund. So schnell sind wir nicht fertig miteinander. Ein wenig wirst du dich schon noch gedulden müssen.“ Sein Blick fällt auf die Hausschuhe neben dem Bett. Die beiden Filzpantoffel stehen wieder einmal verkehrt nebeneinander, aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Allenfalls wird sich später ein ermittelnder Kollege darüber den Kopf zerbrechen. Ob die ungewöhnliche Stellung der Pantoffeln womöglich etwas über den Tathergang aussage, oder ob es sich gar um eine letzte verschlüsselte Botschaft des Opfers handle. Schwachsinn!, denkt er. Wie schwer es mir fällt, meine Situation als dramatisch anzunehmen, obwohl sie es zweifellos ist. Ist das vielleicht dieselbe Art von Sehnsucht wie bei meinem Bruder, ein dunkler Drang nach drüben? Erwarte ich mir so etwas wie die Erlösung von der Banalität alles Irdischen? Aber wird es denn danach wirklich weniger banal? Die Worte des Vaters auf der Intensivstation kommen ihm in den Sinn, an ihn gerichtet in einem der seltenen intimen Augenblicke, die er mit seinem Erzeuger teilte: „I säg dr eppas, des hon i sus no niamand gset : I glob nix vo dem Käs, Tone, gär nix vo dem, was do no ko söll. A koan Gott und o a koan Tüfel.“ Das hatte der Alte ihm noch mitgeben wollen, dass er an nichts von all dem glaube, was nach dem Tod kommen solle, weder an Gott noch an den Teufel, und seine tief liegenden Augen hatten darum gebeten, diese Worte für sich zu behalten. Ein Wunsch, den Hagen natürlich erfüllte. Allerdings, wenn er ehrlich ist, arg beschäftigt hat er sich mit Vaters Einsichten zwischenzeitlich auch nicht. Dass sie ihm gerade jetzt wieder einfallen müssen … „Also schön. Dann reden wir halt. Wenn es dir hilft.“ Es ist nicht das erste Mal, dass er diesen Spruch verwendet. Vor allem gegenüber Lisa hat er damit geglänzt. Zumeist, wenn sie ihn darum bat, endlich ihr komisches Verhältnis zu klären. Er ist nie ein großer Redner gewesen. Außer bei Verhören, aber das ist ein anderer Kanal. Ein öffentlich-rechtlicher gewissermaßen, kein peinlich privater. Mehr noch als das Reden ist das Reden-Lassen ein Teil seiner Arbeit. Es gibt nur wenige Verbrecher, die im Verlauf von tagelangen Verhören nicht einmal zu dem Punkt gelangen, wo sie sich mitteilen wollen. Müssen! Und wenn es nur ein Polizist ist, der ihnen zuhört. Hauptsache, irgendeiner beschäftigt sich mit ihrem vertrackten Innenleben. „Wenn es dir hilft!“, äfft sie ihn nach. „Hat schon viel gelernt von den Ärzten hier, unser Amateurpsychiater! Aber wer sagt dir, dass ich mit dir reden will?“ „Was willst du dann?“ Sie sieht durch ihn hindurch, als ob er nicht im Raum wäre. Er hat noch keinen Menschen kennengelernt, der das besser beherrscht hätte als sie. Es ist nicht jener Blick ins Leere, der einem mitunter beim Nachdenken hilft; nein, es ist die kalte Verneinung des Gegenübers. Ein Leugnen seiner Existenz. Oder zumindest seiner Existenz-berechtigung. „Abwarten“, sagt sie und nimmt auf seiner Matratze Platz. Als wäre sie eine Besucherin am Krankenbett. Von draußen hört er den Ruf eines Uhus. Nichts Außergewöhnliches, die Klinik liegt ja nah genug am Waldrand. Auch die Natur sagt mir, ich sollte mich fürchten, denkt er. Wieso kann ich mich nicht einfach fürchten? Das Stanley in ihrer Rechten zittert nicht im Mindesten, als sie die Klinge noch ein Stück weiter ausfährt.
Textprobe aus LETZTE HERBERGE
3. Kapitel: Eine interessante Leich
„Eine interessante Leich, zweifelsohne!“ Ein typischer Gfaderkommentar. So etwas wie der ultimative Superlativ aus dem Munde des Montafoners. Üblicherweise spricht er von einer toten Leich, oder von toter als tot. Das verheißt eine vom Standard immerhin abweichende Ermittlungstätigkeit. Aber eine wirklich interessante Leich, eine für einen Kriminaler echte Herausforderung, die fällt nicht oft an in der Abteilung. Genau genommen liegt die letzte schon drei Jahre zurück. Hagens Einstandsgeschenk gewissermaßen. Sein erster Fall im Ländle, von dem er sich bis heute nicht richtig erholt hat. Weswegen er den Job hinschmeißen wollte, kaum dass er ihn begonnen hatte. Aber was hast du mit bald fünfzig Jahren für eine Perspektive? Leib Leben Gesundheit, oder – niente. Mit ein bisschen Protektion hat man es gerade noch zum Abteilungsleiter in der Bregenzer KA gebracht. Kurz, bevor die Politiker über Umstrukturierungen bei Gendarmerie und Polizei nachzudenken begannen. Was à la longue nichts anderes bedeuten wird, als früher das hübsche Wort Freisetzung und noch früher – weniger hübsch, aber ehrlicher – Entlassung ausgedrückt hat, Abbau unrentabler Arbeitsplätze. Und diesen sicheren Posten willst du hinschmeißen? Wegen einer klitzekleinen Depression, die eh in der Familie liegt, seit drei Jahren kombiniert mit einer posttraumatischen Störung, die an der Familie liegt? Und von wegen Umschulung, beruflicher Neuorientierung ... Dass ich nicht lache! Bestenfalls ein Leben als Sandler steht in diesem Alter zur Debatte. So, wie es die interessante Leich, mit der Hagen es jetzt zu tun hat, geführt haben dürfte. Denn dass es sich bei dem Toten vermutlich um einen langfristig Obdachlosen handelt, scheint laut vorläufiger gerichtsmedizinischer Erkenntnis nahezu gesichert.Der miserable Zustand der Zähne, die körperliche Verwahrlosung ganz allgemein, nicht zuletzt aufgrund eines offensichtlich andauernden Alkoholmissbrauchs, und Fingernägel, so lang wie bei einem Flamencospieler. Allerdings nicht annähernd so gepflegt. „Wie alt war der Mann, hat der Gerichtsmediziner gesagt?“ „Um die sechzig. Könnten aber auch fünf bis zehn Jahre weniger sein. Solche verbrauchten Typen wirken oft beträchtlich älter, als sie tatsächlich sind.“ Verbraucht. Typen. In die unterste Schublade mit ihnen. Ins Massengrab, wo schon der Mozart auf sie wartet, oder der Woyzeck. Auch so ein interessanter Fall. Verbraucht, missbraucht, zu nichts mehr zu gebrauchen. Und wer braucht dich noch, Hagen? Die Mutter im Altersheim? Damit sie noch einer besuchen kommt, vierzehntägig wenigstens, eine halbe Stunde, dem Feierabend zähneknirschend abgezwackt? Oder dass wer die Stiefmütterchen gießt, die sie auf das Grab von Vater und Hartmut gepflanzt hat? Stiefmütterchen, ausgerechnet! Die Blumensorte, die der Alte partout nicht ausstehen hat können. Für ihn der Ausbund an Spießbürgerlichkeit. Wenn du mir das Kraut im Garten einsetzt, zieh ich aus! Er brauchte nicht auszuziehen. Zu seinen Lebzeiten hat sie seine Stiefmütterchenallergie gefressen, wie alle seine Wunderlichkeiten. Aber gleich nach seinem letzten Schnaufer hat er nichts mehr zu bestimmen gehabt. Nicht einmal, welches Kraut er sich nun eine Ewigkeit lang von unten anschauen darf. Was sie natürlich nie zugeben würde. Sie sagt: Wir nehmen Stiefmütterchen, weil Stiefmütterchen sind pflegeleicht und halten sich lang. Und grad die violetten passen so gut auf ein Grab… Ach, vergiss es, Hagen! Vergiss Mütter und Stiefmütterchen. Wo er Recht hat, hat er Recht, der Gfader: Interessant ist sie, unsere Leich, hochinteressant sogar. Der brave Mitbürger, der seine Ex mit einer Pumpgun niedermacht… Die Frau, die ihren Alten im Schlaf mit seiner Angelschnur erdrosselt… Alles Schema F, alles x-fach gehabt. Aber knapp zwei Meter Paketklebeband um Kopf und Hals herumgewickelt, und dann dieser Fundort! Das bringt die grauen Zellen auf Trab. Du musst auch die schönen Seiten deines Berufs sehen. Die Herausforderung. Das Kribbeln im Bauch, wenn einmal was Unvorhergesehenes passiert, was Unprovinzielles. Etwas, worum sie dich sogar in der Großstadt beneiden. Auch wenn wir dafür jetzt das ganze Weihnachtswochenende zusammenhocken dürfen. Grad darum! Das Fest der Familie ... Du bist ja heilfroh, wenn dich was ablenkt davon. I got it bad and that ain’t good. Das kannst du dir zu Hause noch oft genug anhören, wenn die Erinnerungen dich wieder nicht einschlafen lassen. „Du hast ja ziemlich lang mit diesem Dr. Rosskopf geredet. Ist ihm was Spezielles aufgefallen am Fundort? Irgendwelche Spuren zum Beispiel, bevor er und seine Buben da oben alles zertrampelt haben.“ „Ach ja, der Herr Doktor“, stöhnt Gfader, „der hat vielleicht den Fachmann hervorgekehrt! Hat darauf beharrt, dass er an der Lage der Leiche nichts verändert hat. Abgesehen davon, dass er sie zuerst mit bloßen Händen vom Schnee befreien musste. Und nachdem auch der Hals komplett verpackt war, du weißt schon, womit, hat er halt versucht, den Puls am Handgelenk zu nehmen. Aber auch die Hand habe er selbstverständlich wieder in die ursprüngliche Position zurückgelegt. Wie gesagt, ein Fachmann, der Herr Kardiologe.“ Sie betrachten gemeinsam die Fotos der Spurensicherung. Auf der roten Thermosflasche keinen Meter neben der Leiche glänzt sternförmig die Reflexion des Blitzlichts. „Ich bin gespannt, was sie da drin finden. Es war ja noch ein Rest in der Flasche, oder?“ „Ja. Und wenn mich mein Riechkolben nicht vollkommen getäuscht hat, würd’ ich sagen: ein billiger Obstler. Meilenweit entfernt von allem, was unsereins gewöhnt ist.“ Bei Schnäpsen ist der Montafoner eine Kapazität, zweifellos, eine wahre Koryphäe. Vorigen Herbst konnte Hagen sich selbst davon überzeugen, als Gfader ihn und Winder erstmals zu sich in sein Schrunser Domizil eingeladen hat. Im ausgebauten Keller haben sie ein ganzes Arsenal von Selbstgebranntem verkostet. Natürlich alles schwarz. Da hätte eine gewisse Abteilung bei den Finanzern ihre wahre Freude daran gehabt. Frage nicht, wie man damals heil nach Hause gekommen ist, und ohne einem Kollegen von der Streife in die Arme zu laufen! Das hätte der Major sicher gerne in der Personalakte vermerkt: Chefinspektor Hagen mit über zwei Promille im Blut angehalten… „Und was folgern wir daraus?“ Gfader zwirbelt an seinem Schnurrbart herum. „Du meinst, es könnte ihm einer eingeflößt haben? Nachdem der Alte k. o. gegangen ist? Die Kampfspuren an seinem Oberkörper waren ja unübersehbar, dafür hätte es keinen gerichtsmedizinischen Befund gebraucht.“ „Denkunmöglich wäre das zumindest nicht, oder?“ Nein, denkunmöglich ist kaum einmal was bei so einem interessanten Fall. Übrigens auch nicht bei den uninteressanten. Wie oft haben vorschnelle Schlüsse einen schon in die Irre geführt. „Wir sollten vorläufig noch vorsichtig sein mit Hypothesen. Denk daran, was John Mayall über Jimi Hendrix gesungen hat.“ „Nämlich?“ „Drugs may bring you joy, but the danger is they destroy…Der Blues hieß Accidental Suicide, wenn ich mich richtig erinnere. Tja, momentan können wir Selbstmord auch nicht wirklich ausschließen.“ „Also bitte! Da muss doch einer kräftig nachgeholfen haben. Wer verklebt sich alleine die Atemwege mit zwei Meter Industrieklebeband? Vier Umwicklungen! Das dauert seine Zeit. Da bist du längst erstickt, bevor du damit fertig bist!“ „Kommt wohl darauf an, wie lange du die Luft anhalten kannst. Fesselungsspuren an Armen und Beinen waren auf jeden Fall keine feststellbar. Und wie die Leiche dagelegen ist – hingekuschelt quasi, geradezu friedlich. Wir werden ja sehen, ob die gerichtsmedizinischen Untersuchungen noch was Neues ergeben. Aber es würde mich nicht wundern, wenn die genaue Todesursache infolge der Verwesung der Leiche gar nicht mehr feststellbar ist. Wie auch immer“, Hagen erhebt sich und macht ein paar Dehnungsübungen, „wir ermitteln vorderhand in alle Richtungen, wie es so schön heißt.“ „Okay. Und ich bin sicher, dass wir über den Gebissabdruck schnell herausfinden werden, mit wem wir es zu tun haben.“ „Hoffen wir’s. Und vielleicht bringt ja auch das Absuchen des Geländes was ans Tageslicht. Die Burschen sind wohl noch immer dran, oder?“ „Sind sie. Ich hab grad erst mit ihnen telefoniert. Nichts Neues. Keine Schleifspuren, kein Blut in der Umgebung. Und keine Spur von der Klebebandrolle.“ „In dem Fall: Kaffeepause!“ Sie halten sich eh schon viel zu lange an den Spruch, den sie auf dem zerschlissenen T-Shirt der Leiche gelesen haben: Tua eppas! Das braucht man ihnen, die nun schon seit über zwölf Stunden auf den Beinen sind, wirklich nicht als Motto unter die Nase zu reiben. Zuerst droben auf derHeidenburg bei der Spurensicherung, dann unten in der Pathologie bei der Leichenöffnung. Fürwahr: eine stille, eine heilige Nacht!
Textprobe aus HEIMKEHR
Prolog
Es wird ein Beben geben. Hat er dieses reinigende Gefühl nicht schon beim Aufstehen gehabt? Jetzt ist das Gefühl zur Gewissheit gereift. Ein Beben, wie er, wie seinesgleichen es noch nicht erlebt haben würde. Nicht jenes vage Vibrieren, das einem der Nachrichtensprecher im Nachhinein als ein Beben Stärke vierkommafünf nach Richter bestätigt; nein, eines, wie es in unseren Breiten nur alle paar hundert Jahre einmal auftritt, eines, dem auch moderne Stahlbetonarchitekten nichts entgegenzusetzen haben. Alles rennet, rettet, flüchtet, einem Urinstinkt folgend, hinaus auf die Straße, die indes schon keine Straße mehr ist, nur noch eine zu schroffen Platten und Blöcken sich auftürmende Agglomeration, ein Wirrwarr von umgestürzten, ineinander verhedderten Strommasten und -drähten, von dahinschlitternden Autowracks, von abgerissenen Gliedmaßen. Abgründe tun sich auf, mit denen die Maler apokalyptischer Szenarien seit jeher drohen, Schlünde einer realen Hölle, die innerhalb von ein, zwei Minuten verschlingt, was Menschenhand seit Menschengedenken errichtet. Heulen und Zähneknirschen aus der Knochenmühle, und Zischen, und Klirren, und Brodeln und Bersten, wo Glas und Stahl im Feuersturm verschmelzen, so leicht wie Haut und Haar. Wer verschwendete noch einen Gedanken an die Aktien und Dokumente im Tresor, wo deren Nutznießer und Besitzer ihnen bereits vorangegangen sind in der Auflösung aller Werte? Wer nähme Anstoß am Gestank des brennenden Benzins, wo Menschenfleisch brennt? Wo hat er bloß den Satz gelesen, der ihn seit geraumer Zeit verfolgt? ...dass das, was vom Leben eines Menschen am Ende übrig blieb, auf der nächsten Müllkippe landete. Wie du den Satz auch drehst und wendest, sezierst und mit Antithesen konfrontierst – er bleibt unaufhebbar. In all seiner Grausamkeit. In all seiner Schönheit, wie allein wahre Sätze sie ausstrahlen. Und zutiefst egalitär: Auf jener Müllkippe sticht nichts hervor durch Glanz, durch Form, durch Wert. Individuellste Gerüche lösen sich auf im modrigen Mief der uniformen Halde. Die Selbstverständlichkeit des Mülls. Er hat sie nie hinnehmen wollen. Hat achtlos weggeworfene Plastikflaschen auf fremden Stränden eigenhändig zusammengeklaubt. Papa, der Müllmann! Der zertretene Zigarettenstummel pflückt vom heißen Asphalt. Der kein Papierfetzchen duldet im Plastikcontainer und mit seinem Ordnungssinn die Familie foltert. Solange er noch so etwas wie eine Familie hatte. Der penibelste aller Opas, der gewissenhafteste. Dein Gewissen nimmt dich in Haft, mein Freund! Ein dünner Telegraphendraht vermiest dir das schönste Panorama! Was du Ästhetik nennst, nenne ich pure Pedanterie! Rhomberg, der immerzu verräumen muss, was nicht ins Bild passt. Das, was ohnehin nicht in den Griff zu kriegen ist. Rhomberg, ein Don Quijote der Müllkippe. Jener letzten, auf der am Ende ein jeder landet. Eugen Rhomberg, der selbstsüchtige Riese aus Oscar Wildes Märchen. Der die Kinder aus seinem Garten vertreibt und dafür mit ewigem Winter bestraft wird. Wie gerne würde er mit diesem Riesen tauschen, der, steif und starr hingestreckt wie die gefrorene Erde unter ihm, bedeckt ist mit einem Leichentuch aus weißen Blüten. Dessen Probleme möchte er haben! Wann sind die Kinder seiner Kinder das letzte Mal bei ihm im Garten herumgetollt, wann bekommt er sie überhaupt noch zu sehen? Nein, kein Trost: Die Müllkippe wälzt sich, schleichend, stetig, auf einen zu, ein gewaltiger Polyp, der dich erstickt, ehe er dich verschlingt. Was wäre dem entgegenzusetzen? Stoizismus? Existentialismus? Kalte Verachtung? Nein. Neue Hüte würden landen, wo die alten verrotten, würden die Müllkippe nur noch schneller anwachsen lassen. Überhaupt hätte er, zugegeben, auch kein Talent dafür. Wie sollte einer mit bald sechzig noch etwas dermaßen Zähes erlernen wie die Gesetze der Stoa? Seit Frühjahrsbeginn ist es offensichtlich geworden: Er ist im Begriffe, eine Glatze zu bekommen. Dabei finden sich in der Bürste oder im Duschbecken nicht mehr Haare als früher. Sie scheinen sich, nicht nur sprichwörtlich, in Nichts aufzulösen. Die Haare gehen mir aus wie meine Themen, sagt er sich – worüber soll ich noch schreiben, was wäre es noch wert, beschrieben zu werden? Schon in den Achtzigern haben seine Familienepen nur mit Mühe einen Verleger gefunden. „Zu schwermütig, Rhomberg“, sagte ihm Kahlmann, sein Verleger, ins Gesicht, „und zu viele, die sich wie du in dieser Schwermut suhlen“. Suhlen – die Vokabel hat er tatsächlich verwendet! Zu allem Unglück suhlten sich die anderen immer einen Tick vor ihm in genau den Themen, die auch er beackerte. DerWahn der Freiheit… sein umfangreichstes und vielleicht wichtigstes Werk. Dessen Erscheinungsdatum liegt mittlerweile auch schon sechs Jahre zurück – länger, als der kurzlebige belletristische Markt es erlaubt. Welche Demütigung, sich seither mit gemeinen Rundfunkfeatures über Wasser halten zu müssen! Nicht zu reden von der gleichermaßen unumgänglichen wie verhassten Gesichtswäsche: Bei jeder noch so idiotischen Vernissage, bei jeder noch so nichtigen kulturpolitischen Veranstaltung solltest du aufkreuzen, bloß weil dort auch die aufkreuzen könnten, bei denen es präsent zu sein gilt, um überhaupt ein Produkt platzieren zu können: die Macher, die Rezensenten und, last not least, die professionellen Adabeis, die wiederum Macher und Rezensenten maßgeblich beeinflussen. Doch während ihm solcherlei gesellschaftliche Präsenz eine unsägliche Überwindung abverlangt, genießen es viele seiner so genannten Mitbewerber, vom Kulturlandesrat zum ritualisierten Kulturfrühstück ins Hotel Metz eingeladen zu werden, zum Meinungsaustausch über kulturpolitische Weichenstellungen, wie es im Aussendungstext so hübsch heißt. Ladstätter, der neue Kulturlandesrat, weiß als ehemaliger Rechtsanwalt, wie er seine Klientel bei der Stange hält. Wo sich einst die jungen Wilden in der Autorenschaft aufregten über politische Gängelung und verkrustete Strukturen, stellt man sich heute zahm an um ein literarisches Förderungsstipendium oder um die Zuteilung des landeseigenen Ateliers auf einer griechischen Insel. Er zündet sich eine Pfeife an. Durch die Rauchschwaden hindurch betrachtet er sinnierend den ausgeschalteten Neunzehnzoller, der seit ein paar Monaten die Hälfte seines Schreibtischs belegt. Ob es vielleicht nur Neid ist? Neid auf die neue Generation, auf ihren Erfolg, ihre Anpassungsfähigkeit? Dass sie stundenlang am Bildschirm hocken und ihre postmodernen Montagen zusammenbasteln können, ohne tränende Augen zu bekommen? Dass sie die Welt nicht als einzige große Müllhalde erleben, sondern fröhlich draufloskonsumieren und, wann immer ihnen danach ist, auf schweren Maschinen über die Schweizer Pässe in den Süden jagen? Die Lederhosenträger seiner Kindheit hat er noch belächelt, die Lederkluft der rasenden Zunftgenossen aber hasst er. Sie vermittelt schon von ihrer Textur her, wie aalglatt und rasant ihre Träger durchs Leben lavieren. Zurück bleiben leere Bierdosen und leere Phrasen, Staub und Gestank. Und zurück lassen sie in dem Zurückbleibenden das dumpfe Gefühl: Bist halt zurückgeblieben und also, zu Recht, verstaubt und verstunken! Räum du doch die leeren Dosen weg, wenn du ihren Anblick nicht aushältst! Noch mehr zuwider sind ihm die Alten, die meinen, sich wie Junge gebärden zu müssen; die plötzlich versuchen, sich mit ihren überschwappenden Bierbäuchen auf einspurigen Rollschuhen fortzubewegen oder sich, als biedere Steuerberater wie Burkhart Brandner, eine röhrende Harley Davidson zulegen, um damit bei einschlägigen Bikertreffen einzureiten, wo sie sich den Frust des gehobenen Bürgers für ein Wochenende von der Seele saufen. Wahllos herumficken, ohne Kondom, der vorgeblichen Freiheit zuliebe ihre Angst verdrängen. Und von ihren Touren heimkehren bewaffnet mit Videos, wie von einer Großwildsafari in Südafrika. Braungebrannt. Mit geschwellter Brust. Ein ödes Aufplustern des Egos.Geiles Berichterstatten vom geilen Dabeigewesensein. Früher mittels Dias, heute per Video, das Publikum auf dem Sofa in Geiselhaft. Hast du nichts erlebt diesen Sommer, bist du es nicht wert, dabei zu sein, wenn wir unser Dabeigewesensein präsentieren. Erlebniszwang und Präsentationszwang – eins funktioniert nicht ohne das andere. Es gibt keinen größeren Tabubruch, als sich gegen eine Präsentation zur Wehr zu setzen. Tief in ihm brodelt eine Kraft, die nur darauf wartet, freigesetzt zu werden. Inwendig ist er gefährlicher als ein Vulkan. Ein Vulkan kennt keine Gefühle. Er sehr wohl. Auch wenn er sie gut zu verbergen versteht. Er hat es satt, das ewige Nachbeten, hat sie satt, die elenden Nachbeter. Grad so wie die Vorbeter. Auf die Pfähle mit den Schädeln der Präsentatoren! Nicht, um irgendwelchen Schaulustigen zu imponieren, nein – um damit ihre eigenen Regeln zu zitieren, was immer ein Kokettieren ist, ein Spiel, sinnlos und sinnvoll zugleich, das Spiel als Gegenpol zum Korsett, das sie alle längst meinen abgestreift zu haben, nur weil es nicht mehr aus Fischgräten gefertigt ist. Mit dem Leben selbst herumzuspielen, und also mit dem Tod. Wie Gott selbst, oder wie jeder kleine Krimiautor. Das Motiv dafür? Ein Beben auszulösen… Ein Beben, das ganze Inseln zerbersten lässt. Das Flutwellen in Gang setzt und jede Barriere überschwemmt, wie seinerzeit auf Santorini und Kreta. Überschwemmt mit blankem Entsetzen, mit Panik pur: das Meer der Ohnmacht, unendlich mächtig, unermesslich tief; und schließlich der Dauerregen der Trauer, graue, nasse Schleier, die nichts hineinlassen, und nichts hinaus. Das schiere Gegenteil aller Präsentation: echt Erlebtes. Letzte Gefühle. In diesem Land, wo Gefühle verboten sind, so sie sich nicht verkaufen lassen in katholischen Bildungshäusern oder auf Tai Chi-Kursen oder beim Bauchtanzseminar. Aber er wird sie lehren: Die Tiefe des Gefühlten hat nichts mit Gut und Böse zu tun – nur damit, ob das Wesentliche berührt wird, einmalig, nicht reproduzierbar. Nicht wie die vielen täglichen Tode, von denen du wieder auferstehst, ungeläutert, unbefriedigt. Ein wirkliches Beben eben. Ein Umsturz. Denn am Anfang muss herrschen das Chaos. Notwendigerweise! Das Chaos ist, weiß die Bibel, wissen alle großen Schöpfungsmythen, die Vorbedingung jeglicher Kreation. Er fühlt, dass er endlich wieder ein Thema hat, für das es sich lohnt zu schaffen. Sein Thema! Niemand wird es ihm vor der Nase wegstehlen können, und es wird aktuell sein, solange er es dafür hält. Marktunabhängig, marktenthoben. Er schaltet, das erste Mal seit Tagen, den Computer ein und aktiviert den Internetzugang. Auf den hätte er von sich aus auch gerne verzichten können, aber sein Schwiegersohn Erdal hat ihm das Modem eingeredet: Dann kriegst du täglich elektronische Post von deinen Töchtern und Freunden und Kollegen. Und für deine Recherchen brauchst du nicht einmal mehr in Bibliotheken zu fahren, die sind heute alle schon online. Von wegen tägliche Post! Seine Töchter, die sich am Telefon verleugnen lassen, haben ihn in ihren Verteiler für Massenmails aufgenommen, das ist alles. Um ständig damit genervt zu werden, für irgendein Weltverbesserungsanliegen Namen und Adresse herzugeben. Was er sich natürlich verbeten hat. Langsam aber stetig beginnt er zu schreiben, im Zwei-Finger-Suchsystem. Wie zwei Raubvögel kreisen die Zeigefinger kurz über der Tastatur, stoßen plötzlich zu. Das Beutegut wächst von Minute zu Minute. Er nickt zufrieden, wie immer, wenn er merkt, dass ein Text aus einem Guss ist, und muss kichern: Welch eine Vorstellung, dass das Chaos aus einem Guss sein könnte! Aber hat er jemals so unprätentiös formuliert, so bar aller abgegriffenen Metaphern, so kindlich konkret? Jede Silbe ist durchstrahlt von einer Akkuratesse, die seine sonst so aufwändige Korrekturarbeit erübrigt. Egal, ob jemals einer dieses Opus zu sehen bekommt: Hauptsache, Stimmigkeit herrscht – perfekte Stimmigkeit zwischen dem Werk und seinem Schöpfer. Die Stimmigkeit der wortgewordenen Rache. Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt... Jetzt wohnt es, jetzt macht es sich breit in ihm! Zufrieden streicht er sich mit beiden Händen über den Schädel, von der Stirn über die Geheimratsecken bis zurück zur schütteren Wirbelpartie, und ihm ist, als würde sich auch unter seiner Kopfhaut bereits etwas regen, etwas Neues zu sprießen beginnen.